Anlässlich des Internationalen Welttanztags am 29. April: Was passiert im Gehirn, wenn wir tanzen?
- Shahar
- 8. Mai
- 4 Min. Lesezeit
Im Tanzstudio eines prächtigen, alten Gebäudes im Herzen von Paris schwebt eine Balletttänzerin auf den Zehenspitzen und dreht sich in beeindruckend präzisen Pirouetten. In einer belebten Straße in Downtown New York bildet sich ein Kreis von Passanten um junge Männer, die spontan einen Breakdance-Battle beginnen. In einem andalusischen Dorf im Süden Spaniens klopft eine Flamencotänzerin mit ihren Absatzschuhen auf den Holzboden und gibt sich dem Rhythmus hin, den ihre Schritte erzeugen. In einem kleinen Wohnzimmer in Tel Aviv dreht eine junge Frau die Musik laut auf und tanzt barfuß voller Freude.

Die Kunst des Tanzes ist uralt und überschreitet Kontinente und Kulturen. Sie zeugt auch von den erstaunlichen Fähigkeiten des Gehirns – Gedächtnis, Aufmerksamkeit, präzise Planung. Zur Feier des Internationalen Welttanztags, der kürzlich am 29. April stattfand, tauchen wir ein und entdecken, was im Gehirn passiert, wenn wir tanzen.
Tanzen ist eine geplante oder improvisierte Bewegung des Körpers – und als solche umfasst sie komplexe kognitive Prozesse. Das Erlernen und Ausführen einer Choreografie erfordert eine Vielzahl kognitiver Fähigkeiten: das Arbeitsgedächtnis zur Erinnerung an Bewegungsabfolgen, das Langzeitgedächtnis zum Abruf erlernter Schritte und Muster sowie fokussierte Aufmerksamkeit zur Verfolgung der Musik, zur Koordination mit anderen Tänzer:innen und zur räumlichen Orientierung. Die Notwendigkeit, die nächste Bewegung zu entscheiden und sie mit dem Körper und der Umgebung abzustimmen, verlangt exekutive Funktionen des Gehirns, kognitive Flexibilität und die Hemmung unerwünschter Reaktionen.
Langfristiges Tanztraining beeinflusst die Gehirnfunktion und führt sogar zu strukturellen Veränderungen. Studien zeigen, dass Tanzen zu Veränderungen in Struktur und Volumen der grauen und weißen Substanz führt und die Konnektivität zwischen Hirnarealen verbessert, die für Bewegung, Wahrnehmung, Rhythmus und Koordination zuständig sind – was wiederum eine effizientere Abstimmung dieser Funktionen ermöglicht.
Die positive Wirkung des Tanzens auf das Gehirn zeigt sich auch in seiner Fähigkeit, die sogenannte Neuroplastizität zu fördern – den Prozess, durch den sich das Gehirn in Reaktion auf Lernen verändert. Wenn wir neue Tanzbewegungen lernen und üben, bauen wir neue neuronale Verbindungen auf und stärken bestehende, insbesondere in Hirnarealen, die mit Gedächtnis, räumlicher Wahrnehmung und Bewegungsplanung zu tun haben. Studien an professionellen Tänzer:innen zeigen eine erhöhte Aktivität in den Bewegungszentren des Gehirns und stärkere Verbindungen zwischen Wahrnehmung, Vorhersage und Ausführung von Bewegungen – im Vergleich zu Personen ohne Tanzerfahrung. Faszinierenderweise wurden solche funktionellen Veränderungen im Gehirn sogar schon nach kurzer Tanzpraxis bei Nicht-Tänzer:innen festgestellt.
Zahlreiche Studien belegen den Zusammenhang zwischen Tanzen und der Verbesserung sowie dem Erhalt kognitiver Fähigkeiten. Eine groß angelegte Langzeitstudie fand heraus, dass Menschen ab 75 Jahren, die in ihrer Freizeit tanzten, ein geringeres Risiko hatten, an Demenz zu erkranken. Eine weitere Übersichtsarbeit zeigte, dass Tanzen eine Vielzahl kognitiver Funktionen bei älteren Menschen verbessert – insbesondere das Gedächtnis. In einer Studie, die Tanztraining mit anderen körperlichen Aktivitäten gleicher Intensität verglich, zeigte sich eine besondere Wirkung des Tanzens auf die Gehirnstruktur: Tanz führte zu einer Vergrößerung von Hirnarealen, die bei Bewegung und Wahrnehmung aktiv sind, und zu einem Anstieg des BDNF-Proteins, das Lernen und Gedächtnis fördert, indem es das Überleben und Wachstum von Nervenzellen unterstützt.
Neben der Förderung kognitiver Fähigkeiten wirkt sich Tanzen auch stark auf Stimmung und psychisches Wohlbefinden aus. Die körperliche Aktivität beim Tanzen führt zur Ausschüttung von Endorphinen – Substanzen, die für ein Gefühl von Entspannung und Freude sorgen und Schmerzen lindern. Der soziale Aspekt des Tanzens, besonders in Gruppen, spielt eine wichtige Rolle für das seelische Wohlbefinden: Tanzkurse schaffen Möglichkeiten für soziale Kontakte, stärken das Gefühl von Zugehörigkeit und Unterstützung – alles wichtige Faktoren zur Verbesserung der Stimmung und zur Verringerung von Einsamkeit und Angst.
Tanzen erweist sich auch als wertvolles Mittel im Umgang mit degenerativen Erkrankungen wie Parkinson. In den letzten Jahren zeigen Studien, dass Tanzen motorische Funktionen, Gleichgewicht, kognitive Leistung und Stimmung bei Parkinson-Patient:innen verbessert – und sogar Symptome wie das “Einfrieren” beim Gehen (Freezing) lindern kann, bei dem Betroffene plötzlich stehen bleiben und nicht weitergehen können. Man vermutet, dass äußere Reize wie Musikrhythmus und die Bewegungen anderer Tänzer:innen es ermöglichen, alternative neuronale Wege im Gehirn zu nutzen, wenn krankheitsbedingt andere Pfade nicht mehr funktionieren.
In einer Studie zur Wirkung verschiedener Tanzstile auf Parkinson-Symptome zeigten Patient:innen, die zweimal wöchentlich an Tanzkursen teilnahmen, eine Verbesserung zahlreicher Symptome – insbesondere durch argentinischen Tango. Dieser Tanzstil beinhaltet Rückwärtsschritte, Beinüberkreuzungen und Bewegungen, die Gleichgewicht erfordern – und trainiert dadurch gezielt Hirnmechanismen, die für Haltung und Bewegungskontrolle zuständig sind.
Bewegung und Tanz sind kraftvolle therapeutische und rehabilitative Werkzeuge zur Bewältigung zahlreicher psychischer und physischer Herausforderungen, wie viele Studien belegen. Tanzen kann Angst und Depressionen lindern, die Lebensqualität verbessern und das Körpergefühl sowie die Selbstwirksamkeit stärken. Außerdem kann Tanz helfen, Gefühle auszudrücken und zu regulieren – besonders bei Menschen mit Schwierigkeiten in diesem Bereich, wie eine Studie zum emotionalen Ausdruck im Flamenco-Tanz zeigte.
Fazit: Die Wissenschaft lässt keinen Zweifel: Tanzen ist eine bereichernde Aktivität, die Körper, Geist und Seele guttut. Es verbessert die kognitiven Fähigkeiten, fördert die Neuroplastizität, hebt die Stimmung und steigert das psychische Wohlbefinden. Ob in den präzisen, feinen Bewegungen des Balletts oder in spontanen Schritten im Wohnzimmer – Tanzen hat ein enormes Potenzial zur Verbesserung der Lebensqualität.
Also: Raus auf die Tanzfläche!
Ein Beitrag von Dr. Lee Shalev
Zum Originalartikel auf Hebräisch mit Quellen: hier klicken.
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